Maria - Mutter der Barmherzigen?


Ausgehend von der Feststellung, dass Maria, die Mutter Jesu, als Mutter der Barmherzigkeit verehrt wird, weil sie in Jesus die Barmherzigkeit Gottes der Welt geboren hat, ist es sinnvoll nach der Auswirkung dieser Barmherzigkeit unter den Menschen zu fragen. Nämlich, vor allem in uns, die wir Christen genannt werden und uns zu Christus bekennen, wird eine bestimmte Veranlagung vorausgesetzt, die uns dazu befähigt, uns als barmherzige Menschen zu zeigen. Woher kommt diese Veranlagung? Wie die meisten Fähigkeiten, die der Mensch besitzt, wird auch die Eigenschaft barmherzig zu sein durch entsprechende Erziehung und Vorbilder entfaltet und eingeübt. Darüber hinaus können wir behaupten, dass das Gute ohne hin schon in jedem von uns gesät ist, insofern wir glauben von Gott in dieses Leben gerufen zu sein. Demnach müsste auch der "Barmherzigkeitsinstinkt" in jedem Menschen vorhanden sein und dürfte selbst jenen Menschen nicht abgesprochen werden, die als Nicht-Christen ihr Leben gestalten.

Nun hat aber ein christlich erzogener Mensch in der "Barmherzigkeitskompetenz" einen größeren Vorteil, weil er über eine Reihe von diesbezüglichen Vorbildern und Mustern verfügt, die er im Laufe seines Lebens immer umfangreicher kennenlernen und in seine eigene Erfahrungswelt integrieren durfte. Wenn sich die Christen in der Sache der Barmherzigkeit als kompetent zeigen, so haben sie es jenen zu verdanken, die ihnen als Erzieher diese Werte vermittelt haben. Bereits der vom römischen Komödiendichter T. M. Plautus (ca. 254-184 v. Chr.) stammende Satz "lupus est homo homini" (ein Wolf ist der Mensch dem Menschen) bezeugt, dass die Barmherzigkeit im Menschen kein vorherrschender Instinkt ist. Er muss vielmehr wachgerüttelt und ständig gefördert werden. In der christlichen Tradition können einige Gleichnisse Jesu als geeignetes Mittel zum Wachrütteln des "Barmherzigkeitsinstinkts" genannt werden, z.B. der barmherzige Samariter (Lk 10,30-37); der gnadenlose Diener (Mt 18,23-35); der Gutsbesitzer (Mt 20,1-15). Damit diese Gleichnisse überhaupt weitererzählt und gehört werden, braucht es jemanden, der dafür sorgt und dazu entsprechende Rahmenbedingungen schafft. In unserer christlichen Tradition ist es eben die Kirche, welche mit ihren Stärken und Schwächen durch die Jahrtausende diese Aufgabe wahrnimmt: Sie sammelt die Schätze der Frohbotschaft, hebt sie auf, verkündet sie, erläutert ihren Sinn, ruft sie ständig in Erinnerung - ähnlich wie es die Mutter Jesu getan hat (vgl. Lk 1,46ff; 2,19.51; Joh 2,5). In diesem Sinne dürfen wir sagen, dass die Kirche eine erzieherische, ja mütterliche Funktion ausübt; mütterlich vor allem in Bezug auf die begleitende Aufgabe der Mutter beim Erwachsenwerden ihres Kindes, welches später imstande sein sollte durchs Leben zwar nicht allein, aber selbständig zu gehen. Erfahrungsgemäß bedarf der Mensch für eine gelungene Integration in die Gesellschaft auch einer bestimmten sozialen Kompetenz, die sich u.a. in einer der Barmherzigkeit ähnlichen Umgangsweise mit den anderen Menschen ausdrückt.

Das Vermitteln der "Barmherzigkeitskompetenz" seitens der Kirche gehört zu den wesentlichen Merkmalen der Evangelisierung im Sinne Jesu Christi. Daher müsste der evangelisierte, d.h. bekehrte Mensch eigentlich als barmherziger Mensch auftreten, der den anderen Menschen eben nicht als Wolf, sondern als Bruder begegnet (vgl. Lk 22,32). Aus diesem Blickwinkel zeigt sich die Kirche als Mutter, die durch ihre Unterweisung und das Beispiel ihrer Mitglieder barmherzige Menschen heranwachsen lässt, die wiederum als Licht und Salz in der Welt wirken (vgl. Mt 5,13-14). Die Institution Kirche wird gewissermaßen als Abbild Mariens verstanden, insofern sie jene Eigenschaften verkörpert, die uns in den Evangelien über Maria erzählt werden. Dies wollte auch das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigen, indem es die Jungfrau Maria als Mutter der Glieder Christi, als Typus und klarstes Urbild der Kirche im Glauben und in der Liebe betitelt hat (vgl. LG 53). Damit sagt die Kirche auch etwas über sich selbst: Sie fühlt sich beim Verkünden des Evangeliums Christi dem Beispiel und dem Geist Mariens verpflichtet. Und dieser Geist Mariens lässt sich in den Herzen der Gläubigen ungezwungen als Geist der Barmherzigkeit erkennen, dessen stilles und unaufdringliches Wirken die Menschen zu sanftmütigen und barmherzigen Brüdern und Schwestern werden lässt.

fr. Fero M. Bachorík OSM