verfasst: im April 2009

Die Option für die Armen dürfen wir nie aufgeben!

Ein Gespräch mit dem Befreiungstheologen Clodovis M. Boff OSM

Fr. Clodovis M. Boff OSM
Die lateinamerikanische Befreiungstheologie ist wesentlich von den Geschwistern Boff mitgeprägt worden: Leonardo, Clódovis und Lina. Die beiden letzteren gehören dem Servitenorden an. Clódovis, dem in den 80-Jahren vom Erzbischof von Rio de Janeiro das kirchliche Lehrverbot erteilt wurde, hat vor kurzem durch einen kritischen Beitrag mächtig Staub aufgewirbelt und neue Bewegung in die befreiungstheologische Diskussion gebracht.

Fr. Martin M. Lintner führte mit ihm folgendes Gespräch.

Fr. Clódovis, was ist der zentrale Punkt deiner Kritik an der Befreiungstheologie?

Meine Kritik richtet sich nicht gegen die Befreiungstheologie als solche, sondern gegen die Methode, wie sie in den letzten Jahrzehnten geübt worden ist. Sie hat sozusagen ihre „genetische Identität“ verloren. Ich habe das – zugegeben – etwas spitz formuliert: Die Befreiungstheologie ist eine „Pauperologie“ eine „Armentheologie“, eine „arme Theologie“ geworden. Ich glaube, man ist folgender Verkehrung bzw. Verwirrung verfallen: Man hat den Armen und Christus verwechselt.

Was bedeutet dies konkret?

Der Arme ist zum Fundament geworden, nicht mehr Christus. Man hat den Armen an die Stelle Christi gesetzt und den Glauben für die Befreiung instrumentalisiert. Die sozialen Bewegungen der Kirche konnten nicht mehr unterschieden werden vom sozialen Einsatz von anderen Organisationen. Viele haben sich deshalb von der Kirche abgewandt. Andere wiederum haben sich von den befreiungstheologischen Bewegungen abgewandt, weil sie gesagt haben, dass sie in der Kirche mehr suchen als z.B. in einer Nicht-Regierungs-Organisation, nämlich auch Spiritualität und Hoffnung.

Bedeutet dies, dass die Befreiungstheologie gescheitert ist?

Nein, keineswegs. Im Gegenteil, ich glaube, dass das eigentliche und zentrale Anliegen dieser Theologie in die allgemeine Theologie und auch in die Verkündigung des Lehramtes eingeflossen ist, sozusagen theologisches Allgemeingut geworden ist: die vorrangige Option für die Armen.

Papst Benedikt XVI. hat bei der Eröffnungsansprache der 5. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenz im April 2007 in Aparecida die vorrangige Option für die Armen bestätigt und christologisch begründet.

Ja, damit hat der Papst unterstrichen, dass die Option für die Armen nicht mehr in Frage gestellt werden kann, dass sie aber immer unter dem Vorzeichen der Christologie steht. Den Armen und seine Würde erkenne ich von Christus her, der sich mit dem Armen solidarisiert, nicht umgekehrt. Ausgangspunkt und Fundament ist das Evangelium, das Wort Gottes, und nicht eine soziale Analyse der Armut. Die Erfahrung hat gezeigt, dass viele aufgrund des Misserfolgs im sozialen Engagement ihren Glauben verloren haben. Christus finde ich nicht durch soziale Analysen oder durch Sozialeinsätze, sondern ich erkenne ihn vom Evangelium her.

Was bedeutet die vielbesprochene vorrangige Option für die Armen?

Drei Aspekte müssen festgehalten werden. Erstens: Der Arme bleibt zentral, denn Christus ist arm geworden und hat sich mit den Armen seiner Zeit solidarisiert. Das gibt uns zu denken. Warum hat Christus diesen Weg der Armut gewählt und warum hat er diese besondere Liebe zu den Armen gehabt? Da kommen wir nicht drum herum. Auf theologischer, aber auch auf pastoraler und spiritueller Ebene müssen wir uns fragen, was dies für uns und unseren Glauben bedeutet, denn: Wenn wir den Armen aus dem Blick verlieren, können wir nicht Kirche Jesu Christi sein. Zweitens: Der Arme muss befreit werden. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht, dass zwei Drittel der Menschheit in Armut leben. Befreiung bedeutet natürlich auch materielle und soziale Befreiung: dass die Armen genug zum Leben haben und ihr Leben frei gestalten können. Diese Befreiung besteht wesentlich darin, dass sie selbst Subjekte ihrer Befreiung sind, mit Hilfe der Kirche. Die Kirche muss Anwältin für die Armen sein und darf den Kampf für Gerechtigkeit nie aufgeben. Drittens muss sich die Kirche selber kritisch fragen, ob sie dem gerecht wird, dass sie eine Kirche der Armen ist und dass sie ohne die Armen nicht Kirche sein kann. In Lateinamerika z.B. wäre das kirchliche Leben ohne den Einsatz der vielen Männer und Frauen in den Basisgemeinden nicht vorstellbar, es würde schlichtweg zusammenbrechen. Weiß die Kirche, dass es vor allem die Frauen sind, die das kirchliche Leben im Alltag tragen? Wird sie diesen Frauen gerecht?

Oft wird beklagt, dass sich die Kirche in Lateinamerika zusehends hinter den Altar zurückzieht und nur mehr Sakramente verwaltet.

Die Feier der Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums sind die wichtigsten Aufgaben der Kirche. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass dies allein nicht genügt zum Heil. Es sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Auf dogmatischer Ebene geht es um die Bewahrung und Verkündigung des rechten Glaubens. Damit dieser Glaube aber auch rettet, bedarf es des konkreten Einsatzes für die Armen aus dem Glauben heraus. Es genügt nicht, nur den rechten Glauben zu bekennen, denn beim Gericht wird Jesus sagen: „Was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“ (vgl. Mt 25). Glaube und befreiendes Handeln müssen in einem rechten Bezug zueinander stehen, der eine kann ohne das andere nicht sein und umgekehrt.

Du bist Servit. Was bedeutet das für dich?

Dass ich Christus dienen will, wie Maria es getan hat. Maria ist Dienerin, arm und demütig. Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zu ihr. Von Maria habe ich eine große Sensibilität für das Leben gelernt, für die Schöpfung, für den Menschen. Ich empfinde ihr gegenüber eine große Liebe und Dankbarkeit, denn sie hat uns Christus geschenkt und sie führt uns zu ihrem Sohn.

Danke für das Gespräch!